Achtsamkeit – Zwischen Selbstoptimierung und ethischem Handeln
2 June 2022
Online-Vortragsreihe, organisiert vom Numata-Zentrum für Buddhismuskunde der Universität Hamburg und Netzwerk Ethik heute
Nach unserer Vortragsreihe „Achtsamkeit – kritischer Blick auf einen Trend“ im Wintersemester 2016/17 widmeten wir uns im Sommersemester 2022 einer weiteren kritischen Frage: Gibt es eine ethische Dimension von Achtsamkeit?
Je nach Absicht der Praktizierenden kann Achtsamkeit im Dienste einer egoistischen Selbstoptimierung oder des Gewahrseins existenzieller Verbundenheit stehen. Kann Achtsamkeit prosoziales Verhalten fördern oder bedarf es dazu weiterer Faktoren wie etwa der Schulung von Mitgefühl? Welche Effekte der Achtsamkeitspraxis in Bezug auf moralisches Handeln sind empirisch tatsächlich nachweisbar? Gibt es eventuell negative Auswirkungen, gar Unvereinbarkeiten? Und wie geht die Forschung mit solchen Fragestellungen um?
Die drei Online-Abende widmeten sich diesen Fragen in drei Vorträgen aus verschiedenen Disziplinen und luden zur Reflexion und Diskussion über die Verbindung von Achtsamkeit und Ethik ein.
28. April: Ariadne von Schirach: Cui bono? Achtsamkeit zwischen Spiritualität und Selbstoptimierung
10. Mai: Anne Böckler-Raettig: (Wie) Kann Meditation soziales Verstehen und Verhalten fördern?
2. Juni: Simon Schindler: Mehr Moral und Nächstenliebe? Ein achtsamer Blick auf den Achtsamkeit-Hype
Cui bono? Achtsamkeit zwischen Spiritualität und Selbstoptimierung
Ariadne von Schirach, 28. April, 18.15 Uhr
Die Erde erwärmt sich, Wälder brennen, Tiere sterben aus, es ist Krieg in Europa. Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Doch zugleich laden uns die vielen Krisen dazu ein, anders über unser Menschsein und unsere Rolle auf dieser Erde nachzudenken.
Das beginnt mit der Anerkennung der Tatsache, dass uns Menschen alle mehr verbindet, als trennt. Wir alle müssen selbst auf unser Dasein antworten, und wir alle besitzen einen Geist, sind also in vielfacher Hinsicht spirituelle Wesen.
Spirituelle Techniken wie Meditation, Achtsamkeit oder Yoga dienen der Beruhigung unseres Geistes. Je nach Absicht stehen diese Techniken eher im Dienst der egoistischen Selbstoptimierung als dem Gewahrsein existenzieller Verbundenheit.
Diese Verbundenheit ist die Quelle echter Spiritualität, die ich als geteilte Teilhabe am Ganzen verstehe. Hier entspringen Bemühung und Demut, Güte und Dankbarkeit, Solidarität und Mitgefühl. Und hier entspringt ein anderer Umgang mit unserem Menschsein, der nicht nur das eigene Leben zu verwandeln vermag, sondern auch unser Zusammenleben miteinander und mit allem, was ist.
Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und arbeitet als freie Journalistin. Autorin der Sachbuch-Bestseller “Der Tanz um die Lust” (2007) und “Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst” (2014). “Die psychotische Gesellschaft” (2020) bildet den Abschluss dieser Trilogie des modernen Lebens. Im Herbst 2021 erschien ihr neuestes Buch, Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen.
Ein Skript des Vortrags können Sie hier herunterladen. Den Vortrag können Sie hier anschauen.
(Wie) Kann Meditation soziales Verstehen und Verhalten fördern?
Anne Böckler-Raettig, 10. Mai 2022, 18.15 Uhr
In unserer vernetzten, globalisierten Welt sind wir immer stärker auf Kooperation angewiesen. Zentrale Aspekte sozialen Verstehens wie z.B. Empathie und prosozialen Verhaltens wie z.B. Hilfsbereitschaft sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung gerückt.
Kann man soziales Verstehen und prosoziales Verhalten gezielt fördern? Dies haben wir in einer großangelegten Längsschnittstudie untersucht und dabei drei meditations-basierte Trainings zugrundegelegt.
Unsere Ergebnisse legen nahe, dass soziale Emotionen wie Mitgefühl und sozio-kognitive Fertigkeiten wie Perspektivübernahme insbesondere durch die spezifisch darauf ausgerichteten Trainingsmodule gefördert werden. Darüber hinaus wirkte sich besonders das Training von sozialem Affekt, beispielsweise Mitgefühl, positiv auf
Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit, also prosoziales Verhalten, aus.
Anne Böckler-Raettig ist seit 2021 Professorin für Forschungsmethoden und Soziale Kognition an der Universität Würzburg. Nach Promotion in Nijmegen in den Niederlanden und einem Forschungsaufenthalt an der Princeton University arbeitete sie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Seit 2015 Juniorprofessorin in Würzburg, 2020 nahm sie einen Ruf als Professorin für Allgemeine Psychologie an die Leibniz Universität Hannover an.
Den Vortrag können Sie hier anschauen.
Mehr Moral und Nächstenliebe? Ein achtsamer Blick auf den Achtsamkeit-Hype
Prof. Dr. Simon Schindler, 2. Juni 2022, 18.15 Uhr
Achtsamkeit liegt sowohl in der psychologischen Forschung als auch in vielen gesellschaftlichen Bereichen im Trend. Dieser Vortrag wirft einen achtsamen Blick auf den aktuellen Forschungsstand.
Dabei werden diverse methodische Begrenzungen bei der empirischen Untersuchung von Achtsamkeit deutlich, wodurch valide Aussagen über tatsächliche Effekte nach wie vor nur begrenzt möglich sind. Zum anderen wird eine Forschungslücke bei möglicherweise unerwünschten Auswirkungen identifiziert. So sind negative Konsequenzen beispielsweise auf interpersoneller und moralischer Ebene theoretisch plausibel herleitbar. Insgesamt kann ein Bedarf an weiterer Forschung konstatiert werden.
Simon Schindler ist Leiter der Professur für Sozialpsychologie an der Technischen
Universität Dresden. 2014 Promotion und 2021 Habilitation im Fach Psychologie an der Universität Kassel. Neben Achtsamkeit beschäftigt er sich u.a. mit den Themen Lügen bzw. Lügenerkennen und dem Einfluss der eigenen Sterblichkeit.
Eine Audioaufzeichnung des Vortrags finden Sie auf den Seiten des Netzwerks Ethik heute.
Lesen Sie hier ein Interview mit Simon Schindler zum Thema "Achtsamkeit".